Schweizer EM-Geschichte in fünf Episoden
Fünfmal nimmt die Schweiz bisher an einer EM teil. Jede von ihnen schreibt ihre eigene, unvergessene Geschichte.
EM 1996: Der Schnauz der Nation
Wohl nie zuvor und danach wird in der Schweiz derart heftig über einen Nationalcoach gestritten wie vor der EM 1996. Die Schweiz hatte sich erstmals überhaupt für eine Euro qualifiziert, der Erfolgstrainer Roy Hodgson, mit dem man an der WM in den USA mit den Torschützen Alain Sutter und Adrian Knup begeistert hatte, war aber zu Inter Mailand weitergezogen. Sein Nachfolger wird der feingeistige portugiesische Kunstliebhaber Artur Jorge, bald als "Schnauz der Nation" bekannt.
Die Stimmung kippt, als Jorge Sutter und Knup aus seinem EM-Aufgebot streicht. Der "Blick" titelt, angesichts einer vorherigen Hirn-OP Jorges mehr als grenzwertig, in fetten Lettern: "Jetzt spinnt er!" Der "Tages-Anzeiger" verteidigt den zuvor im Klub-Fussball durchaus erfolgreichen Portugiesen ebenso vehement und trotzig. Die Fans aber toben. Der Auftakt zur EM gelingt dank eines verwandelten Penaltys von Kubilay Türkyilmaz und einem 1:1 im Wembley gegen England. Es bleibt aber das einzige Erfolgserlebnis. Es folgen ein 0:2 gegen die Niederlande und ein 0:1 gegen Schottland, und der im letzten Februar verstorbene Artur Jorge ist bei der Schweizer Nati schon bald wieder Geschichte.
EM 2004: Hausgemachte Spuckaffäre
Acht Jahre dauert es bis zur zweiten Schweizer EM-Teilnahme, und sie ist wenig rühmlich. Im zweiten Gruppenspiel spuckt der Schweizer Stürmerstar Alex Frei den Engländer Steven Gerrard an - zunächst ohne klaren Beweis. Ausgerechnet Bilder des Schweizer Fernsehens bringen Klarheit. Was eine unschöne Geste des späteren Schweizer Rekordtorschützen war, erhält durch das anfängliche Abstreiten und die folgende Schuldzuweisung an die nationale TV-Anstalt, die nur ihre journalistische Arbeit gemacht hat, erst den Status einer eigentlichen Staatsaffäre. Da geht fast unter, dass Johan Vonlanthen gegen Frankreich (1:3) zum bis heute jüngsten EM-Torschützen der Geschichte wird (18 Jahre, 141 Tage). Es ist allerdings auch das einzige Schweizer Tor an dieser EM.
Keine angenehmen Tage erlebt auch Urs Meier. Der Aargauer Schiedsrichter verweigert England im Viertelfinal gegen den Gastgeber Portugal das vermeintliche Siegestor wegen eines Fouls. Die berüchtigten Boulevardblätter auf der Insel verlieren darauf jeden Anstand. "What an Urs Hole", titelt zum Beispiel der "Daily Star" - und Meier erhält Tausende von wütenden E-Mails und sogar Morddrohungen.
2008: Alex Freis bittere Tränen
7. Juni 2008, erste EM in der Schweiz, Eröffnungsspiel. 39'730 Fans lassen den Basler St. Jakob-Park knistern, alles ist angerichtet für ein grosses Fest. Es läuft die 42. Minute, und die Fussballschweiz hält den Atem an. Alex Frei hatte die Devise ausgegeben, Europameister werden zu wollen. Als Captain sollte er für die notwendigen Tore sorgen. Nach einem Zweikampf bleibt der Basler liegen. "Ich hörte das Knacken des Bandes. Da wusste ich schon im ersten Moment, dass die EM vorbei ist", wird Frei später sagen. Vorbei ist auch die Euphorie. Die Schweiz verliert gegen Tschechien 0:1 und gegen die Türkei in einer Regenschlacht 1:2. Sie schreibt Fussballgeschichte, aber nicht wie erhofft. Als erster Gastgeber scheidet man schon in der Vorrunde aus.
2016: Shaqiris Zauberfuss
Es gibt magische Momente, zu denen nur ganz wenige Fussballer fähig sind. Xherdan Shaqiri ist so einer. Im EM-Achtelfinal in Saint-Etienne läuft bereits die 82. Minute. Die Schweiz spielt Polen an die Wand, rennt aber zunehmend ratloser einem 0:1-Rückstand hinterher. Dann aber der Auftritt von Shaqiri. Ein halbhoher Ball landet an der Strafraumgrenze, fast im Zeitlupentempo legt sich der Basler waagrecht in die Luft und haut das Ding mit seinem linken Zauberfuss in die Maschen. Ein Tor des Jahres, das für Ekstase sorgt. Dumm nur, dass im folgenden Penaltyschiessen nur einer von zehn Schützen verschiesst: Granit Xhaka.
2021: Ein magischer Sommer
Eine seltsame EM, über ganz Europa verteilt und wegen Corona um ein Jahr verschoben. Die Schweizer beginnen schwach, sorgen mit Besuchen beim Coiffeur und im Tattoo-Studio zur Unzeit und ungenügenden Leistungen in den ersten zwei Gruppenspielen für Negativ-Schlagzeilen. Es folgt aber das Highlight der letzten 70 Jahre helvetischer Fussballgeschichte. 1:3 liegt das Team von Vladimir Petkovic gegen den Weltmeister Frankreich im Rückstand, doch in den letzten zehn Minuten schaffen Haris Seferovic und Mario Gavranovic die wundersame Wende. Im Penaltyschiessen haben neun Schützen schon getroffen, da kratzt Yann Sommer den Versuch von Superstar Kylian Mbappé. Ein seltenes Schweizer Erfolgserlebnis in einem Penaltyschiessen - und ein kurzlebiges. Im Viertelfinal gegen Spanien (nach einem 1:1) ist es mit der Herrlichkeit bereits wieder vorbei. Fabian Schär, Manuel Akanji und Ruben Vargas versagen vom Punkt aus die Nerven, da nützen auch zwei gehaltene Elfmeter von Sommer nichts.